R. Stahl AG

06/21/2021 | News release | Archived content

Laues Lüftchen statt großer Knall

21.06.2021

Revolution im Explosionsschutz

Mit EXpressure revolutionieren wir den Explosionsschutz. Denn die neue Technologie ermöglicht besonders dünnwandige und damit leichtere Schaltschränke, die sich kaum noch von denen im sicheren Industriebereich unterscheiden - dennoch können sie zuverlässig in explosionsgefährdeten Bereichen eingesetzt werden. Für diese Entwicklung bekamen wir gemeinsam mit der Hochschule in Jena den Forschungstransferpreis der IHK Heilbronn Franken. Eine Auszeichnung insbesondere für das Entwicklungsteam (Prof. Dr. Frank Engelmann, Prof. Dr. Thorsten Arnhold, Bernd Limbacher, Jürgen Poidl, Jürgen Schmitt, Otto Walch), welches von der gemeinsamen Arbeit berichtet.

Herr Professor Dr. Engelmann, EXpressure wurde gemeinsam mit der Hochschule in Jena entwickelt. Wie kam es zur Zusammenarbeit mit R. STAHL?

Engelmann: Ich habe bereits seit mehr als 15 Jahren Kontakt mit Professor Dr. Arnhold. Dieser Kontakt kam durch gemeinsame Forschungsarbeiten bei der Physikalisch Technischen Bundesanstalt (PTB) zustande. Damals war ich noch Lehrstuhlleiter an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg und lud Dr. Arnhold zu Vorträgen über Themen der Sicherheitstechnik ein. Als ich später an die Ernst-Abbe-Hochschule nach Jena ging, haben wir gemeinsam eine Forschungskooperation aufgebaut.

Was war das Ziel der Forschungskooperation bei der Entwicklung von EXpressure?

Arnhold: 43 Prozent der IECEx-zertifizierten Geräte basieren auf der Zündschutzart druckfeste Kapselung (Ex d). Die Zündschutzart ist sehr robust und zuverlässig doch hat sie auch erhebliche Nachteile. Dazu gehören, dass Ex d-Lösungen ab einer gewissen Gehäusegröße schwer und klobig werden. Das liegt im hohen Explosionsdruck begründet, den die druckfesten Kapselungen im Fall der Zündung einer eingedrungenen explosionsfähigen Atmosphäre auffangen müssen. Je nach der Größe und Geometrie des inneren Volumens der druckfesten Kapselung, der Zusammensetzung der entzündeten explosionsfähigen Atmosphäre und der Lage der Zündquelle können dabei Explosionsdruckspitzen im Bereich von 8 bar bis 15 bar auftreten. Ein weiterer Nachteil der herkömmlichen Technik sind die dicken Wandstärken im Bereich von 10 mm bis 20 mm. Dadurch wird eine wirtschaftlich und technisch sinnvolle Baugröße auf Gehäusevolumen von maximal etwa 500 Litern beschränkt. Aus diesem Grund werden bislang große und komplexe elektrische Steuerungen und Verteilungen auf verschiedene kleinere druckfest gekapselte Gehäuse aufgeteilt, die dann miteinander kombiniert werden. Daraus resultiert wiederum ein hoher Aufwand bei der Projektierung und Herstellung solcher Gehäusekombinationen. Zudem führen nachträgliche Änderungen an der inneren elektrischen Verdrahtung zu Umbaumaßnahmen, die in der Regel vor Wiederinbetriebnahme durch Ex-Sachverständige abgenommen werden müssen.

Engelmann: Um diese Nachteile auszuräumen, beschäftigten wir uns in den letzten Jahren mit modernen Leichtbauprinzipien. In diesem Zusammenhang wurden auch zahlreiche Versuche mit verschiedenen porösen Materialien durchgeführt. Ziel dieser Versuche war es, effiziente und sichere Möglichkeiten zu finden, mit denen die Wirkung der zünddurchschlagsicheren Spalte multipliziert werden konnte und sich dadurch ein deutlich erhöhter und schnellerer Druckabbau nach einer erfolgten inneren Explosion ergab. Ein erster Erfolg war die Entwicklung und Patentierung eines Druckentlastungselements aus porösem gesintertem Material. Mit diesem Element, das 2015 eine ATEX-Zertifizierung erhielt, konnte eine Druckreduzierung von bis zu 30 % gegenüber herkömmlichen druckfesten Gehäusen erzielt werden.

Aber das war noch nicht das Ende.

Limbacher: Tatsächlich war dies erst der Anfang. Um zu einer grundlegend neuen Konstruktion zu kommen, erforschten wir gemeinsam mit der Ernst-Abbe-Hochschule Jena, was tatsächlich bei einer Explosion in einem druckreduzierten Ex d-Gehäuse passiert, und kamen zu einer wichtigen Erkenntnis: Der bei einer Explosion entstehende Druck wird sehr schnell abgebaut. Dabei helfen zwei verschiedene physikalische Vorgänge. Auf der einen Seite die Volumenarbeit, weil die gasförmigen Verbrennungsprodukte über den zünddurchschlagssicheren Spalt nach außen abgeführt werden, und auf der anderen Seite die Wärmeabfuhr über die Gehäusewand. Wir erkannten, dass die Abkühlung der wesentliche Faktor für den Druckabbau ist. Um die Wärmeabfuhr zu beschleunigen und zu intensivieren, entwickelten wir gemeinsam ein Metallgitter, das mechanisch stabil ist, eine hohe Gasdurchlässigkeit und eine hohe Wärmekapazität bei geringer Wärmeleitfähigkeit besitzt. Ziel war es, ein Material zu finden, das den Druck im Lastfall maximal reduziert und gleichzeitig den Zünddurchschlag verhindert. Die Zünddurchschlagfestigkeit wird erreicht, weil die freigesetzte Reaktionswärme sehr schnell von der Gitter-Luft-Struktur aufgenommen wird und zudem ein Teil des unverbrauchten Gas-Luft-Gemisches aus dem Gewebe herausgedrückt wird. Das aus Schichten von übereinanderliegenden Drahtgittergeweben aufgebaute Metallgitter wird entweder in Aluminiumgehäuse eingegossen oder in Edelstahlgehäuse eingeschweißt.

Was passiert, wenn es nun zu einer Explosion kommt?

Engelmann: Kommt es zur Zündung einer explosionsfähigen Atmosphäre im Inneren eines so konzipierten Gehäuses, wird die freigesetzte chemische Energie schnell und effizient abgebaut. Dabei werden unterschiedliche physikalische Effekte wirksam: Das gasdurchlässige Gewebe ermöglicht einen raschen Druckabbau nach außen. Dabei wird, je nach Lage der Zündquelle im Druckraum, auch ein gewisser Teil des unverbrannten Gas-Luft-Gemischs herausgedrückt und kann so nicht explosionswirksam werden. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der entstehenden Reaktionswärme wird aber auch von der Gitter-Luft-Struktur des Drahtgewebes aufgenommen und steht somit zum inneren Druckaufbau nicht zur Verfügung.

Arnhold: Das Ergebnis ist frappierend: Misst man in einem gleich großen herkömmlichen Ex-d-Gehäuse Drücke von 10 bar, so liegt der Spitzendruck in den neuen Gehäusen bei Werten weit unter einem bar. Folglich kommen EXpressure-Schaltschränke mit deutlich reduzierten Wandstärken aus und sind erheblich leichter. Zudem kann verhindert werden, dass die äußere Oberfläche der Gitterschichten den für die Temperaturklasse T4 zulässigen Wert überschreitet. Um zu vermeiden, dass das Metallgitter im rauen Betriebsalltag verschmutzt oder vereist, werden auf die Entlastungsflächen Berstscheiben installiert, die sich im Explosionsfall bei einem Solldruckwert von 0,1 bar öffnen und im Normalbetrieb die Schutzart IP66 erreichen.

EXpressure-Schaltschränke kommen mit deutlich reduzierten Wandstärken aus und sind erheblich leichter.

Prof. Dr. Thorsten Arnhold, VP Technology and German Member of the IEC Board of Conformity Assessment (CAB)

Welche Vorteile hat EXpressure für Anwender?

Poidl: Bei Offshore-Anwendungen ist Installationsfläche und das Gesamtgewicht ein wirtschaftlicher Faktor bei der Auslegung der Anlagentechnik. Dies gilt gleichermaßen in der Verfahrenstechnik zur Erstellung von MTP (Module Type Package) Anlagen. Hier sollen durch die Modularität in den Anlagen schnelle Änderungen in der Produktion umgesetzt werden können. Die benötigte Produktionsfläche und das Gewicht der gesamten Produktionsmodule ist auch hier eine wichtige Eigenschaft, zur Realisierung dieses Konzeptes. EXpressure bietet durch die neuen Möglichkeiten in der Auslegung und durch das besondere Design, mit leichten und großen Schaltschränken, die Lösung in Anwendungen im Explosionsschutz.

Was bedeutet das konkret?

Poidl: Die Gewichtsreduzierung erleichtert den Transport, das Handling und die Montage. Durch das platzsparende Gehäusekonzept und eine geringere Aufstellungsfläche wird ein kompakteres Maschinen- und Anlagendesign möglich. Der große, ungeteilte Installationsraum ist frei zugänglich für die Bestückung und Verdrahtung von Schaltkomponenten sowie Wartungs- und Inspektionsarbeiten.

Schmitt: Darüber hinaus ermöglicht das mit vielen herkömmlichen industriellen Schaltschränken und Steuerkästen vergleichbare Einbauvolumen eine unveränderte Übertragung des Schaltanlagen-Layouts aus dem sicheren in den Ex-Bereich ohne zusätzlichen Engineering-Aufwand. Mit EXpressure sind auch kurzfristige Auftragsänderungen während der Inbetriebnahme und SAT-Abnahme einfach zu realisieren. Kabeleinführungen lassen sich jederzeit unkompliziert nachrüsten und vorinstallierte Geräte um neue Komponenten ergänzen.

Können dank dieser Vorteile auch neue Kunden gewonnen werden?

Schmitt: Mit den geringeren Abmessungen des EXpressure-Schaltschranks ist nun die Installation in beengten Räumen möglich. Darüber hinaus können jetzt Betriebsmittel wie beispielsweise Transformatoren sicher in den Schaltschrank eingebaut werden.

Haben Sie ein konkretes Beispiel, wo EXpressure bereits erfolgreich im Einsatz ist?

Poidl: Unter anderem nutzt der Kranhersteller Liebherr EXpressure für eine deutlich kompaktere explosionssichere Maschinensteuerung für Offshore-Krane. Denn EXpressure ist - wie bereits berichtet - durch seine leichte und kompakte Bauweise prädestiniert für den Einsatz auf Offshore-Installationen mit engen Platzverhältnissen. Deshalb gehören auch zahlreiche weitere Anwender im Maschinenbau zu unseren Kunden.

Was muss beim Engineering von EXpressure beachtet werden?

Poidl: Die großen Einzelgehäuse führen zu einer höheren Leistungsdichte in den Gehäusen. Um besonders kompakte und leichte Gesamtlösungen zu erzielen, ist eine transiente Erwärmungsberechnung in unserem Engineering als wichtiger Baustein für die Auslegung zu sehen. Mit dieser Simulation ist die hohe Lebensdauer der Maschinensteuerung sichergestellt.

Ist EXpressure für alle Ex-Bereiche geeignet?

Walch: Die durch die PTB und DEKRA zertifizierten EXpressure-Schaltschränke sind als druckfeste Kapselung Ex d zertifiziert und damit für Anwendungen in explosionsgefährdeten Bereichen der Zone 1 und Zone 2 geeignet.

EXpressure ist für Anwendungen in explosionsgefährdeten Bereichen der Zone 1 und Zone 2 geeignet.

Otto Walch, Coordination Laboratories / Standardization / Certification

Herr Walch, Sie haben die Zulassung betreut. Was musste dafür alles vorbereitet und beachtet werden?

Walch: Diese neue Entwicklung ist in der aktuell gültigen Normenversion der DIN EN 60079-1 Explosionsgefährdete Bereiche - Teil 1: Geräteschutz durch druckfeste Kapselung 'd' (IEC 60079-1:2014) nicht abgebildet. Um ein Zertifikat nach dieser Norm zu erhalten, müssen entweder alle in der Norm vorgegebenen Forderungen erfüllt werden, oder es muss sichergestellt sein, dass die Sicherheit dieser Entwicklung trotzdem gegeben ist. Es wurde eine Möglichkeit ausgearbeitet, die Prüfungen annähernd normenkonform durchzuführen, und die Sicherheit der Gehäuse mit zusätzlichen Konstruktionsmerkmalen (z. B. Berstscheiben) zu gewährleisten.

Da EXpressure ein komplett neuer Ansatz für Ex d-Gehäuse ist, fiel die Entscheidung, dieses Zertifizierungsprojekt mit zwei unabhängigen Prüfstellen zusammen durchführen. Es wurde eine gemeinsame Lösung ausgearbeitet und umgesetzt. Letztendlich wurde sowohl das für Europa notwendige ATEX-Zertifikat als auch das IECEx-Zertifikat erhalten. Mit der Wahl der beiden, sehr kompetenten Prüfstellen, DTC (Dekra Testing and Certification, auch als DEKRA EXAM oder Bergbau Versuchsstrecke BVS bekannt) und der PTB (Physikalisch Technischen Bundesanstalt) konnte die Akzeptanz dieser neuen Entwicklung auf dem Markt forciert werden.

Welche Hürden mussten während des Zulassungsprozess gemeistert werden?

Limbacher: Die Druckreduzierung im Bereich druckfeste Kapselung ist ein komplett neuer Ansatz. Das hat zur Folge, dass jedes Konstruktionsdetail und speziell das Druckentlastungsmaterial stark im Fokus der beteiligten Prüfstellen standen. Wir haben besonders das eingesetzte poröse Material untersucht. Die Abstimmung mit unserem Hersteller sowie die Definition der notwendigen Prüfungen und Qualitätskriterien waren eine Herausforderung, die wir gemeinsam im Team bewältigt haben.

Wie lange dauerte der Zulassungsprozess?

Walch: Bei diesem Projekt wurde der Zulassungsprozess bereits während der Entwicklung des EXpressure-Gehäuses gestartet. Die notwendigen Zertifizierungsprüfungen wurden parallel zur Entwicklung durchgeführt. Hiermit wurde die Möglichkeit geschaffen, die Ergebnisse in die nächste Entwicklungsphase einzubinden und die Ergebnisse - nach Bestehen der Prüfungen - sofort in die Zertifizierungsunterlagen zu übernehmen. So hatten wir das Zertifikat innerhalb weniger Wochen, nachdem die Entwicklung abgeschlossen war.

Der IHK-Forschungstransferpreis ist eine Auszeichnung für das EXpressure-Entwicklungsteam: Otto Walch, Bernd Limbacher, Prof. Dr. Frank Engelmann, Jürgen Poidl, Jürgen Schmitt und Prof. Dr. Thorsten Arnhold (von links nach rechts).

Wie konnte EXpressure so schnell zur Marktreife geführt werden?

Schmitt: Aus jedem Fachbereich des Unternehmens haben wir Spezialisten einbezogen. Jeder für sich stark in seinem Fachwissen und in seiner Handlungsweise. Ein großes Plus bei der Zusammenarbeit war der gemeinsam genutzte Projektraum, der es uns ermöglichte, über die Entwicklungszeit ein bereichsübergreifendes Wissensniveau zu erreichen. Ebenso hatte das EXpressure-Projektteam das Ziel immer klar vor Augen. Und so konnten wir durch viele parallel angestoßene, ineinander verzahnte Tätigkeiten den Entwicklungszyklus drastisch verkürzen.

R. STAHL hat ein eigenes Labor. Welchen Nutzen hatte das, während der EXpressure-Entwicklung?

Limbacher: Wir können in unseremLabor am Standort Waldenburg Explosionsprüfungen nach der Ex d-Norm durchzuführen. Soviel ich weiß, sind wir der einzige Hersteller der diese Prüfmöglichkeiten hat. So waren wir in der Lage, bis zu einer Gehäusegröße von ca. 200 Liter poröse Materialen auf ihre Eigenschaften bzw. ihr Verhalten bei Gasexplosionen zu prüfen. Auf Basis dieser Prüfungen und unserer langjährigen Erfahrungen im Bereich der Entwicklung von druckfesten Gehäusen, war es uns möglich, wichtige Erkenntnisse zu erarbeiten und Designregeln abzuleiten. Der enge und ständige Informationsaustausch mit der Ernst-Abbe-Hochschule Jena im Rahmen unserer Forschungskooperation, war hierbei für uns immer wichtig, interessant und inspirierend.

Gab es auch Rückschläge bei der Entwicklung?

Schmitt: Klar gab es die - Rückschläge gibt es immer. Aber vom Sport lässt sich ableiten: Gewinner stehen da wieder auf, wo die Verlierer auf der Strecke bleiben. Denn Goldmedaillen sind eigentlich nicht aus Gold, sondern aus Schweiß, Entschlossenheit und der seltenen Legierung Mumm geprägt. So und nicht anders sind wir nach einem Rückschlag erneut ans Werk, um neue Lösungswege zu finden. Motiviert und mit dem Ziel vor Augen, wurden Abschätzungen, Analysen, Simulationen und Modellbetrachtungen immer wieder aufs Neue erstellt und in Frage gestellt. Dass wir damit erfolgreich waren zeigt zu guter Letzt, dass bei der Entwicklung von EXpressure mehr als 20 neue Patentideen entstanden bzw. angemeldet sind.

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