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Government of the Grand Duchy of Luxembourg

10/21/2021 | Press release | Distributed by Public on 10/21/2021 02:00

'Europa muss Farbe bekennen'

Tiroler Tageszeitung: Am 7. Oktober ließ das polnische Verfassungsgericht im Rahmen des Streits um die Justizreform zwischen der Regierung in Warschau und Brüssel eine Bombe platzen und erklärte Teile des EU-Rechts für nicht mit der Verfassung Polens vereinbar. Und stellte damit nationales Recht über EU-Recht. Kann dieses Urteil die Fundamente der europäischen Rechtsgemeinschaft, sogar die Fundamente der Union ins Wanken bringen?

Jean Asselborn: Es ist das erste Mal in der Geschichte der EU, dass die Regierung eines EU-Landes sein oberstes Gericht ermutigt, ein solches Urteil zu fällen. Regierungschef Mateusz Morawiecki hatte das polnische Verfassungsgericht ja gebeten, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu überprüfen. Und das Urteil wurde von Richtern gefällt, welche von der rechtsnationalen Regierung in Warschau installiert wurden. Niemals zuvor wurde der Grundsatz des Vorrangs von EU-Recht vor nationalem Recht, das in den Sechziger-Jahren vom EuGH entwickelt wurde, als Prinzip in Frage gestellt. Damit wird die europäische Rechtsordnung und in der Folge die Einheit Europas untergraben. Wir können das nicht zulassen, wir müssen Farbe bekennen. Und mit "wir" meine ich die Mitgliedsstaaten der EU und nicht nur die EU-Kommission.

Tiroler Tageszeitung: Wie kann die EU reagieren, eine klare Front gegen Polen zeichnet sich ja erneut nicht ab?

Jean Asselborn: Die EU-Kommission wird wieder ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen einleiten. Entscheidend wird aber sein, dass die Kommission als Hüterin der EU-Verträge die Freigabe von insgesamt 57 Milliarden Euro aus dem europäischen Corona-Hilfsfonds für Polen weiter zurückhält. Diesen einzigen Hebel, den wir haben, darf die Kommission nicht aus der Hand geben. Es darf kein europäisches Steuergeld in ein Land fließen, das die Grundregeln des Rechtsstaates nicht einhält. Rechtsstaatlichkeit heißt, dass die Justiz frei und unabhängig ist, dass es eine freie Presse gibt, dass es eine Trennung der Gewalten gibt. Die Gegengewichte zu den Regierenden in einer Demokratie, die Justiz und die freie Presse, dürfen nicht ausgeschaltet werden. Aber genau das passiert seit einigen Jahren in Ungarn und auch in Polen. Europa wird das Ende der Rechtsstaatlichkeit freilich nicht überleben. Dann ist die Union am Ende. Europa ist ja mehr als ein Gebilde, in dem die Staaten nur lose zusammenarbeiten. Es geht um Integration, um das Ziel einer immer engeren Union der Völker Europas. Genau darum haben wir ja einen Teil unserer Souveränität abgegeben.

Tiroler Tageszeitung: Dieses Ziel hat freilich nicht nur die britische Regierung abgelehnt. Auch in anderen Hauptstädten von EU-Ländern will man von einer Vertiefung der Union nichts hören.

Jean Asselborn: Heute verstehen viele Regierende oft nicht mehr, wofür die EU eigentlich steht, die Idee der Gründerväter und -mütter Europas ist verloren gegangen.

Es scheint, dass es nur mehr um den bloßen Machterhalt geht. Und deswegen vergeht man sich an den Medien und an der Justiz. Doch dann sind wird kein Europa mehr, das auf Werten, das auf Demokratie aufgebaut ist.

Tiroler Tageszeitung: Europa bleibt "krank, solange es aus der Flüchtlingskrise keinen Ausweg gefunden hat", haben Sie im Vorjahr erklärt. Doch der Versuch, eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik zu etablieren, ist gescheitert. Und es schaut nicht danach aus, dass man in naher Zukunft einen gemeinsamen Nenner finden wird. Bleibt Europa also "krank"?

Jean Asselborn: Wir müssen einsehen, dass wir die Flüchtlingskrise nur gemeinsam mit einer einheitlichen Migrationspolitik meistern können, wie jetzt aktuell an der Grenze Polens und der baltischen Staaten zu Belarus. Auch Österreichs früherer Kanzler Sebastian Kurz hat 2018 im Europäischen Rat mitgeholfen, dass die verpflichtende Verteilung von Flüchtlingen in Europa nicht umgesetzt wird. Und die Behauptung, die Migration über das Mittelmeer sei gestoppt, ist falsch. Dies wird nie eintreten. Europa ist fähig, Menschen, die unter dramatischen Umständen flüchten müssen, aufzunehmen. Wie sprechen ja nicht mehr von Hunderttausenden, sondern von einer sehr beschränkten Zahl. Und Kurz hat 2018 während der EU-Ratspräsidentschaft Österreichs entschieden, dem UNO-Migrationspakt nicht beizutreten. Das hat mir damals unglaublich weh getan. Wir werden Europa niemals ganz abschotten können, diesen Tag wird es bei den aktuellen globalen Entwicklungen und Krisen -von Kriegen bis hin zu Klimakatastrophen - nie geben. Mit dem Schutz der Außengrenzen alleine werden wir globale Fluchtbewegungen nicht aufhalten können. Da könnten wir eine "Chinesische Mauer" um Europa herum bauen und würden damit nichts ausrichten. Man darf den Menschen nichts vormachen. Europa muss sich menschlich geben und seinen Beitrag leisten. Selbst bei der Tragödie in Afghanistan sperrten sich einige EU-Außenminister, Menschen in höchster Not aufzunehmen. Da wollte man nicht einmal den Wortlaut des UNO-Sicherheitsrates, Menschen in Not zu helfen, akzeptieren.

Tiroler Tageszeitung: Stichwort Afghanistan. Hat die Misere in Kabul nach dem überhasteten Abzug der USA und der Machtübernahme der Taliban gezeigt, dass Europa auch geopolitisch stärker werden muss?

Jean Asselborn: Europa muss sich besser abstimmen. Das hängt in erster Line von der Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich ab. Europa kann in erster Linie als Soft Power punkten. Es geht nicht nur um militärische Stärke.